Unsere Glocken – Geschichte einer Auferstehung

Unsere Glocken – Geschichte einer Auferstehung, so lautet die Überschrift eines Beitrags von Karl-Bernhardin Kropf, der im Gemeindebrief für den Sommer 2021 erschien. Diesen Beitrag ist sehr gelungen, interessant und zuversichtlich. Dafür ein großes Dankeschön an Karl-Bernhardin Kropf. Wir stellen Ihnen seinen Text hier zur Verfügung:

Im Sommer 2006 ging ich zum ersten Mal durch die Marienkirche. Im Nordosten, nahe der Tauffünte, standen zwei Glocken (abgestellte Glocken sind für Glockenfreunde ohnehin so etwas wie ausgestopfte Tiere für Zoologen). Zwar kann man die Verzierungen der Glocken sehen, sogar besser als im Turm, aber zu hören gibt es nichts. Das metallische Geräusch eines Anschlags hat mit dem eigentlichen Ton nichts zu tun.
Die beiden Glocken waren vor Jahrzehnten gesprungen, die größere schon 1908, nur Monate nach Beschaffung einer fünf Jahre zuvor erfundenen Läutemaschine – Folge einer Fehlbedienung? Die andere Glocke sprang im Mai 1945, als eine der wenigen auf Rostock abgefeuerten russischen Panzergranaten im Turmdach zersplitterte. „Schweißung 1952 misslungen. Unter Denkmalschutz!“ war auf handgemalten Schildern zu lesen. Auch waren die Glocken ihrer traditionellen Aufhängungen, der „Kronen“, beraubt worden. Anno 1870 hatte man sie abgeschlagen, um eine vermeintlich praktischere Aufhängung einzurichten. Auch im Eingangsbereich der Kirche stand eine Glocke: deutlich kleiner, Krone beschädigt, ohne Zeichnungen… verstummt wie ihre großen Schwestern.

Auf dem Marienturm läuteten damals immerhin drei Glocken – eine alte von 1548, von der Petrikirche „geborgt“, und zwei 1979 unter großem Engagement in schwieriger DDR-Situation beschaffte Glocken aus Apolda. Die Petri-Glocke läutete damals viel zu lang (jeden Mittag zehn Minuten) und alle drei Glocken waren problematisch aufgehängt („gekröpft“), um den Turm zu schonen, doch mit der Folge eines matten Klanges, wie man ihn heute noch vom Nikolaiturm hört. Oben in der Turmhaube hing die Stundenglocke, schon seit Jahrzehnten verstummt. Kurz gesagt:
Die Glocken-Situation damals atmete jene depressive Grundstimmung, die in mancher Hinsicht in der Marienkirche in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts greifbar war.

Glocken
Die beiden Glocken, die 1979 in Apolda gegossen wurden, stehen zur Zeit noch in der Marienkirche.

Doch 1992 hatte eine umfassende Sanierung der Kirche begonnen und als ich 2007 meinen Dienst antrat, hatten die Planer bereits die umfassende Sanierung des Turmes in den Blick genommen – ein Millionenprojekt!
Auf glückliche Weise gelang es Frank Sakowski, damals Bauleiter und Vorsitzender des Fördervereins, unter Beratung von Claus Peter, Glockensachverständiger aus Westfalen, und der Beteiligung vieler Förderer über die Turmsanierung hinaus ein Glockenprojekt anzuschieben, welches nicht nur Bestehendes bewahrt, sondern Verlorenes wieder herstellt:
Alle Läuteglocken wurden vom Turm abgenommen, die mittelalterlichen zur Restaurierung ins bayrische Nördlingen verschickt, wo die gesprungenen endlich fachgerecht geschweißt werden konnten und neue, nach altem Vorbild gegossene Kronen eingesetzt oder vorhandene aufgearbeitet wurden.

Um die alten Glocken im Dienst zu entlasten, beschloss man auch den Guss von zunächst einer neuen Glocke.
Aufgrund guter Spendenentwicklung konnte bald sogar eine zweite bestellt werden. Claus Peter schlug für die Funktionen der beiden Glocken („Betglocke“ zum Vaterunser und Mittagsläuten, „Sakramentsglocke“ besonders zu Taufen und Abendmahl) passende Bibelverse vor. Die alten Glocken weisen teilweise hervorragende Verzierungen auf und so sollten auch die neuen darin nicht nachstehen. Als Künstler konnte der insbesondere für seine Bronzearbeiten geschätzte Rostocker Bildhauer Wolfgang Friedrich gewonnen werden. Und obwohl er von Haus aus kein christlicher Künstler ist, fand er einen derart gelungen Weg vielsagender figürlicher Darstellungen, dass er in der Folge von weiteren Kirchengemeinden als Glockengestalter angefragt wurde.

Zu den beiden Glockengüssen (Januar und Oktober 2011 bei der Firma Bachert in Karlsruhe) reisten Delegationen aus der Innenstadtgemeinde an, ein Guss wurde sogar filmisch dokumentiert.
In einem süddeutschen Spezialunternehmen (Baumann, Pfinztal) wurden inzwischen in der selten gewordenen Freiformschmiedetechnik genau berechnete Klöppel angefertigt. Außerdem wurden beeindruckende Eichenholzjoche hergestellt, die als bewegliche Aufhängungen und Gegengewichte der Glocken dienen. Im Frühling 2011 kam dies alles per Tieflader nach Rostock (nur die Sakramentsglocke folgte im Herbst) und wie bei der Abreise der Glocken hatte sich wieder eine Volksmenge versammelt, um nun die Heimkehrenden zu empfangen. Emotionale Szenen spielten sich ab – die Glocken wurden, am Kran hängend, angeschlagen, und viele wollten die neue Betglocke berühren, denn dies soll Glück bringen. Das Aufziehen der Glocken wurde für Monteur Udo Griwahn zur erfolgreich gemeisterten Herausforderung – ein „Tetris-Spiel“, wie er selbst sagt. Denn vom Vorplatz ging es hoch, dann durch die neugeschaffene Turmluke in den südlichen Turm, in diesem dann weiter hoch, auf einer Zwischenetage nach Norden, dann hoch in die Glockenstube, in dieser dann an den jeweiligen Glockenstuhl. Fünf, ab Herbst 2011 sechs Läuteglocken! Nie zuvor hatte die Marienkirche so viele gute und funktionierende Glocken gleichzeitig zur Verfügung gehabt.

Am 7. Mai 2011 wurde das fünfstimmige Geläut im Rahmen eines Gemeindefestes unter großer öffentlicher Anteilnahme von Pastor Jeremias gesegnet und in den Dienst genommen. Der Tag endete mit einem feierlichen Dankgottesdienst.

Die Entstehungsjahre unserer Glocken sind: ca. 1300 (Bürgerglocke), 1379 (Stundenglocke), 1409 (Große Glocke), ca. 1450 (Bleichermädchen), 1544 (Wächterglocke), 2011 (Betglocke, Sakramentsglocke). Wenn wir die alten Glocken hören, sollten wir bedenken, dass sie bereits Generationen von Rostockern zeitliche und – jedenfalls im späten Mittelalter – geistliche Orientierung waren und wir über ihre Klänge mit unseren Vorfahren verbunden sind.

Es wird Zeit, dass die ausgeborgte Petri-Glocke von 1548 heimkehrt auf den Petriturm und die beiden auf sie abgestimmten Schwestern von 1979 mitnimmt, damit dieser Dreiklang fortan über der östlichen Altstadt klinge – mit korrekt aufgehängten Glocken schöner als je zuvor!

Und noch eine gute Nachricht: Aus dem „besonderen“ 18-Uhr-Läuten als Gebetseinladung in der Corona-Zeit hat sich in der östlichen Altstadt ein „übliches“ Abend-Läuten entwickelt.
Nun trägt auch der Nikolaiturm zu jener klanglichen Hülle bei, die allabendlich der Stadt Heimatgefühl und Geborgenheit schenkt. Dabei müssen die vier Nikolai-Glocken (gegossen 1962 in Eisenhartguss als Ersatz für die verloren gegangenen Bronzeglocken) noch von Hand geläutet werden. Unter denen, die sich per Fahrstuhl oder zu Fuß dazu in die Glockenstube begeben, sind Knut Thielk und Jürgen Möller besonders zu erwähnen. Hört man die
Abendglocke vom Nikolaiturm, sollte man dankbar dafür sein, dass jemand in der Stadt diesen Dienst tut.

Karl-Bernhardin Kropf